Von Jochen Molck
Im September war es so weit: Die Muse kam auf einem Floß über den Mittelhafen in Münster, um die Schlüssel für den umgebauten Speicher zu überreichen. Eine Opernsängerin verwandelte den Bewilligungsbescheid der Stadt in eine Arie, und mit einer großen Feier eröffnete das neue Kulturzentrum B-Side offiziell. Das Künstlerkollektiv Baddabäm brachte den langen Vorlaufprozess selbstironisch auf die Bühne, bevor die Feier begann. Über 1.000 Gäste kamen zur Eröffnung, sodass zeitweise ein Einlassstopp nötig war.
Die Studierenden-Stadt Münster in Westfalen ist nicht arm an kulturellen Orten. Schon seit Jahrzehnten gibt es u.a. das soziokulturelle Zentrum c.u.b.a. oder das Kreativ-Haus. Hier im Osten der Stadt, am alten Hafen, ist aber in den letzten 20 Jahren ein neues Quartier entstanden. Auf der A-Seite des Hafenbeckens gibt es schon länger üppige Gastronomie, Galerien und schicke Lofts. Die B-Seite entwickelte sich später, und hier stand der alte Hill-Speicher, den Aktivist*innen, vorwiegend aus dem studentischen und kreativen Milieu, vor Privatisierung retten wollten.
Nach knapp zehn Jahren Auseinandersetzung, Planung, aufreibenden Debatten und unendlichem ehrenamtlichen Engagement ist das gelungen. Für rund 9,5 Millionen Euro wurde der alte Speicher umgebaut und in ein Kulturzentrum verwandelt mit Bühne, Werkstätten, Allmende-Küche, Ateliers, Kreativ- und Proberäumen. Einige Räume sind untervermietet, z.B. als Co-Working Space und Büros für gemeinnützige Vereine, wie das AFAQ (Verein für kulturelle und gesellschaftliche Zusammenarbeit) oder die LAG Soziokultur NRW.
Herzstück ist das Café, auch Quartierswohnzimmer genannt, in guter soziokultureller Tradition als ein Ort ohne Konsumzwang. Der gemütlich ausgestattete Raum mit anschließender Dachterrasse ist jetzt dauerhaft geöffnet. Ein großer Teil der Möbel wurde und wird noch in der eigenen, gut ausgestatteten Holzwerkstatt selbst entworfen und gebaut, ehrenamtlich von der Tischlergruppe. Für die Zukunft ist dort geplant, regelmäßig verschiedene Workshops anzubieten, um Menschen zu qualifizieren. Dabei geht es um mehr als reines Handwerk, sondern auch um die Verbindung zu ökologischen und sozialen Fragen. Großes Interesse gibt es bereits an der „Turnhalle“, dem Tanz- und Bewegungsraum, der ebenfalls basisdemokratisch von den Nutzer*innen in Eigenregie verwaltet wird.
Hier unterscheidet sich die B-Side von vielen anderen soziokulturellen Zentren. Sowohl in ihrer Entstehungsgeschichte als auch in der der Praxis setzen die Macher*innen auf radikale Soziokratie. „Wir versuchen, Hierarchien so gut wie möglich abzubauen oder erst gar nicht entstehen zu lassen. Innerhalb eines Kreises treffen wir Entscheidungen im sogenannten Konsent. Konsent bedeutet, dass kein Mensch Widerstände gegen eine bestimmte Entscheidung hat. Wir suchen also so lange nach einer Lösung, bis alle sich mit der Entscheidung wohlfühlen können. Innerhalb der Kreise entscheiden wir gemeinsam, welche Entscheidungen auch von Einzelpersonen ohne Absprache getroffen werden dürfen.“
Aktuell gibt es im Zentrum fast 20 Arbeitskreise, von der Bürgerfunkgruppe über den Faltenrock (Ü60-Tanzformat) und das Hansaforum (gemeinwohlorientierte Quartiers- und Stadtentwicklung) bis hin zu den AKs Politische Bildung oder Zukunft der Soziokultur. Unterstützend wirken auch die Arbeitskreise Öffentlichkeitsarbeit, IT, Café oder Hansawerkstatt. Die AKs arbeiten weitgehend selbstbestimmt und treffen sich in unterschiedlichen Rhythmen, manche sehr oft, die meisten regelmäßig, einige nur anlassbezogen. Gehen Entscheidungen über den eigenen AK hinaus, dann werden die Mitglieder anderer Arbeitskreise mit einbezogen. Auf der Ebene des Gesamtprojektes gibt es den Koordinierungskreis, zu dem alle AKs Delegierte entsenden. Auch hier wird so lange diskutiert, bis eine gemeinsame Linie gefunden ist und diese auch im Haus kommuniziert wurde. Formal besteht die B-Side aus drei Körperschaften, dem Kultur- sowie dem Hausverein, der Träger der B-Side GmbH ist.
Für die interne Kommunikation gibt es im Haus ein eigenes wichtiges Tool: Mattermost – ein Linux basierter, open-source Teamchat-Server, vergleichbar mit den kommerziellen Systemen Teams oder Slack. Über einzelne Kanäle können die AKs unter- wie miteinander kommunizieren, und zugleich wird für alle eine Transparenz nicht nur der Entscheidungen, sondern auch der Kommunikationsprozesse hergestellt.
50 Prozent der Kommunikationsarbeit würde digital erledigt, schätzt einer der Beteiligten. Darüber hinaus spielen analoge Treffen, direkte Gespräche und Plena weiter eine wichtige Rolle. Dass diese Form der intensiven Kommunikation bisweilen recht anstrengend ist, bestreitet wohl niemand aus dem Team, trotzdem gilt sie bei den meisten als der Schlüssel zum Erfolg, ohne den sich das Projekt über so einen langen Zeitraum nicht hätte entwickeln können. „Wir sind die Hippies mit den Excel-Tabellen“ sagte eine der Gründerinnen.
Einige Bereiche im Projekt wurden mittlerweile professionalisiert, im Sinne von zum Teil bezahlter Arbeit. Neben viel „Ehrenamt mit Verantwortung“ gibt es mittlerweile sechs halbe Stellen, wobei die Hauptamtler*innen in der Praxis noch sehr viel ehrenamtliche Arbeit zusätzlich leisten. Selbstausbeutung ist für die Macher*innen der B-Side kein Fremdwort. Es gibt auch Aktive, die ausgestiegen sind. Der Anspruch, die Arbeitsbedingungen zu verbessern, ist ausdrücklich formuliert, doch die Praxis hinkt hinterher. „Es gibt zu wenig Menschen für zu viele Aufgaben“, so ein Kollektivmitglied.
Das seit Jahren etablierte Stadtteilfest B-Side Festival, ebenfalls ehrenamtlich organisiert, ermöglicht auf ganz unterschiedlichen Leveln einen Einstieg und schnelle Selbstwirksamkeit. Ebenso schnell wird auch Verantwortung übertragen, auf der Grundlage von Musterfällen und Leitfäden plus transparenter Kommunikation. Jährlich organisieren neue Leute das Festival, ohne bei Null zu beginnen. Ein weiterer Weg, sich Unterstützung zu organisieren, ist die Abgabe von Infrastruktur, wie z.B. der professionellen Küche oder den Bikes der Cargoflotte, nicht gegen Geld, gegen sondern gegen Eigenleistung in anderen notwendigen Bereichen.
Für die Zukunft stehen dem Projekt einige Herausforderungen bevor: Zum einen muss der normale regelmäßige Alltagsbetrieb mit Veranstaltungen und Gastronomie und seinen kleinen und großen Alltagsproblemen bewältigt werden. Das Neben- oder Miteinander von Ehrenamtlichkeit und bezahlter Arbeit (unter prekären Bedingungen) muss austariert werden, ebenso wie die Diversität des Kollektivs. Fleißig werden Projektanträge geschrieben, um die eigentliche Kulturarbeit finanzieren zu können. Es gibt zwar einen guten Nutzungsüberlassungsvertrag und die Unterstützung der Stadt ist stabil, aber aktuell noch degressiv angelegt. Insgesamt möchte sich das Projekt agil weiterentwickeln, lebendig bleiben und sich permanent erneuern. Am Ziel, eine funktionierende Supportstruktur für zivilgesellschaftliche Selbstorganisation zu bieten, wird die B-Side festhalten, denn nach wie vor versteht sich das Kollektiv als Ermöglicherin. Und dabei soll es auch bleiben. Weitere Infos zum Projekt finden sich unter: www.b-side.ms.
Der Beitrag ist erschienen in den Kulturpolitischen Mitteilungen Nr. 187 (IV/2024) mit dem Schwerpunkt „Inklusion als kulturpolitische Aufgabe“.