Gespräch mit den Vorständ*innen von Soziokultur NRW über die Stärkung der Demokratie in der Kulturarbeit

Die Soziokultur folgt seit ihren Anfängen demokratischen Werten: Sie ist politisch, setzt auf Austausch, Teilhabe und Inklusion. Dabei bleibt sie kritisch und unangepasst, wach und in Bewegung. Vier Vorständ*innen von Soziokultur NRW im Gespräch über die Stärkung der Demokratie in der Kulturarbeit.

Interview: Julia von Lindern

Julia von Lindern: Was bedeutet Demokratiearbeit für euch? Wie trägt die Soziokultur zur Stärkung der Demokratie bei?

Gemma Russo-Bierke: Aus meiner Sicht geht es vor allem darum, Netzwerke so zu spannen, dass sie ihre Wirksamkeit voll entfalten können. Demokratie ist ein fluides Konstrukt, das immer wieder neu bestätigt werden muss. Aus der Sicht des GREND ist essenziell, dass wir kontinuierlich mit den unterschiedlichsten Akteur*innen im Gespräch sind und uns auf die Suche begeben nach allen relevanten Netzwerkpartner*innen der Demokratie.

Birte Gooßes: Für uns ist es besonders spannend, dass wir mit neuen Akteur*innen in den Austausch gehen und mit ihnen gemeinsam aktiv werden. Ich denke da vor allem an den Aspekt der Vielfalt. Bei uns in der Altstadtschmiede finden gerade migrantisch gelesene Zuschauer*innen und migrantisch positionierte Organisationen ihren Weg zu uns ins Haus. Wenn diese Organisationen auf „alte“ Akteur*innen treffen, entsteht ein stärkerer Aushandlungsprozess, als wenn wir in der üblichen Bubble diskutieren. Das ist total gut und sinnvoll!

Uwe Vorberg: Für mich geht es im Kern um die Frage, was es eigentlich braucht, damit Leute sich demokratisch engagieren. Als soziokulturelle Zentren können wir dazu beitragen, dass diejenigen, mit denen wir in Kontakt sind, Selbstwirksamkeit erleben. Indem sie aktiv werden, auch politisch etwas gestalten, ihre Interessen wahrnehmen und formulieren, erfahren sie hautnah, wie Aushandlungsprozesse funktionieren. Genau das ist ein wichtiger Aspekt der Demokratie.

Tonja Wiebracht: Als soziokulturelle Zentren ermöglichen wir Freiräume, in denen demokratische Aushandlungsprozesse stattfinden. Wir bieten politischen und sozialen Initiativen Räume für den Austausch, und auch unsere Angebote der kulturellen Bildung haben eine demokratiestärkende Komponente, wenn sich vor allem junge Menschen mit künstlerischen Mitteln zu gesellschaftlich relevanten Themen äußern. Darüber hinaus wirken wir als Häuser direkt in die Gesellschaft hinein, indem wir vor allem mit lokalen Gruppen und Initiativen themenspezifisch zusammenarbeiten.

Julia: Hat sich die politische oder demokratische Bildungsarbeit in den letzten fünf Jahren verändert?

Uwe: Vor fünf Jahren hatten wir mit Fridays for Future eine starke Bewegung, in der sich viele sehr junge Menschen intensiv um ein sehr übergeordnetes Thema gekümmert haben: um das Klima, das Überleben der Menschheit, die Rettung der Erde. FFF hat dabei zugleich einen Anspruch auf demokratische Mitbestimmung formuliert. Und dann kam die Pandemie und sorgte bei vielen für eine Ohnmachtserfahrung. Seitdem erlebe ich häufig, dass sich die junge Generation jetzt mehr mit persönlichen Fragen befasst, z. B. mit der Betroffenheit von Diskriminierung, mit Nicht-Beachtet-Werden, mit ihrer Identität. Wir können helfen, angesichts dieser neuen, viel individuelleren Themen ein Bewusstsein von Solidarität herzustellen, und dazu motivieren, sich gegen Ausgrenzung und negative Erfahrungen zusammenzutun und sich gemeinsam zu wehren.

Gemma: Hat aus deiner Sicht Corona dafür gesorgt, dass sich junge Menschen tendenziell frustriert von den großen politischen Themen abwenden, oder liegt es daran, dass die Entscheider*innen Veränderungen bewusst ausgesessen haben?

Uwe: Beides. In der Frage der Umweltpolitik haben vor allem junge Menschen Machtlosigkeit erlebt, weil es klar definierte Forderungen an die Politik gab, der erforderliche Wandel aber nicht erfolgt ist. Das entmutigt und frustriert! Corona war dann die zweite Ohnmachtserfahrung. Das führt möglicherweise dazu, dass sich Menschen von der Politik und den großen Themen abwenden.

Julia: Ihr habt von Ohnmacht, aber auch von Empowerment gesprochen. Geht es aus eurer Sicht aktuell noch um eine Stärkung der Demokratie oder schon um ihre Verteidigung?

Gemma: Der Anspruch muss sein, die Demokratie besser zu machen, sie funktioniert ja nicht gut. Sonst würden nicht so viele Menschen sagen, dass sie sich nicht mehr abgeholt fühlen. Die Konsequenz, die nicht wenige daraus ziehen, ist, ein System zu wählen, das die Demokratie beenden will. Und das bedeutet nichts Gutes.

Uwe: Es muss viel dafür getan werden, diese Entwicklungen zurückzudrehen. Angriffe auf die Demokratie, auf Kunstfreiheit, auf Minderheiten kommen ja nicht nur aus dem extrem rechten Spektrum, sondern auch andere politische Parteien befeuern Ausgrenzungsprozesse. Das betrifft auch die Kultur: Wir wissen von Angriffen auf soziokulturelle Zentren hier in NRW, und es gibt sie noch viel massiver in Ostdeutschland, wo Kulturinstitutionen angegriffen werden, weil sie was „Falsches“ auf die Bühne bringen. Da müssen wir auch als Verband einiges tun, um uns gemeinsam zu wehren.

Tonja: Ich habe lange nicht in dieser Kategorie gedacht – die Demokratie zu verteidigen –, weil für mich klar war, dass sie da ist und bleiben wird. Genau das ist jetzt nicht mehr so eindeutig. Die Grenzen des Sag- und Machbaren haben sich eindeutig verschoben.

Birte: Ich glaube, das hat auch etwas damit zu tun, dass wir generell sensitiver werden. Unsere Werte und Normen haben sich verändert, wir agieren diskriminierungs- und machtsensibler, bilden uns fort, bemühen uns darum, inklusiver zu arbeiten, und positionieren unsere Zentren anders. So haben wir Publikum dazugewonnen, zeigen ein anderes Programm, aber wir werden dafür teilweise auch angegangen.

Gemma: Wir haben mit Blick auf die akzeptierten Diskurse in den vergangenen Jahrzehnten gleichzeitig auch viel erreicht. Viele frauenfeindliche, rassistische oder diskriminierende Äußerungen sind vor 50 Jahren beispielsweise in Talkshows oder am Stammtisch unwidersprochen geblieben. Heute ist es anders. Und jetzt kommt plötzlich ein Akteur wie die neue Rechte hinzu und schafft es, diese Errungenschaften zurückzudrehen. Und trotzdem: Es ist toll, dass sich so viele für eine pluralistische Gesellschaft einsetzen, für demokratische Grundwerte und für die Vielfalt.

Julia: Zu einer lebendigen Demokratie gehört auch eine gute Debattenkultur. Was sind für euch Elemente des konstruktiven Streitens?

Birte: Mir fällt dazu als Erstes das Thema Awareness ein. Wir haben ein Awareness-Konzept für unsere Kulturveranstaltungen erarbeitet und Standards für unser Haus festgelegt: Was wird toleriert, was nicht? Wie kommunizieren wir mit Gästen bei Grenzüberschreitungen? Wo fängt die Diskussion an, wo hört sie auf, und wann müssen Gäste das Haus verlassen? Am liebsten hätten wir bei jeder Veranstaltung ein erfahrenes Team vor Ort, das können wir uns leider nicht leisten.

Uwe: Wir bemühen uns, auch mit Leuten ins Gespräch zu kommen, die normalerweise nicht zu uns ins Haus kommen. Wir versuchen, im Stadtteil Dialoge mit verschiedenen zivilgesellschaftlichen Akteur*innen herzustellen. 2015 und 2016 konnten wir so viel zur Unterstützung von Geflüchteten anstoßen. Es ging uns darum, ein Klima zu schaffen, das auf neue Nachbarschaft und Willkommenskultur setzt. Und darin sehe ich auch heute unsere Aufgabe: bestimmte Diskurse anzustoßen und Kommunikation zu ermöglichen.

Gemma: In der direkten Zusammenarbeit merkt man eigentlich immer schnell, dass es gar nicht so viel Grund gibt zu streiten. Viele Themen, die die Gesellschaft auseinandertreiben, kommen gar nicht aus der Zivilgesellschaft. Es sind ökonomische, machtpolitische, geostrategische Themen, die von außen eine Dynamik in das Miteinander bringen. Wenn man sich aber auf einer persönlichen Ebene begegnet, wie das oft in der Soziokultur der Fall ist, wird schnell klar, dass wir alle gar nicht so weit auseinanderliegen.

Julia: Welche Akteur*innen brauchen wir für die Stärkung der Demokratie?

Tonja: Wir brauchen natürlich die vielen Initiativen, Vereine und Institutionen – von der Kita bis hin zum Moscheeverein. Gerade in der Vernetzung der unterschiedlichen Akteur*innen liegt eine große Stärke der Soziokultur. Wenn ein Thema oder eine Fragestellung es verlangt, sind wir offen und schauen: Wer kann helfen? Wen können wir zusammenbringen?

Gemma: Es geht immer darum, geeignete Kooperationspartner*innen zu finden. Dazu gehören aus meiner Sicht auch Player, die Arbeitsplätze oder Wohnraum schaffen, oder solche, die sich dafür stark machen, dass der Nahverkehr gestärkt wird – also wer setzt gute Themen, wer hat eine starke Lobby? Gleichzeitig ist es mir wichtig zu zeigen, dass wir selbst als Akteur*innen der Soziokultur auch wertvolle Partner sind. Wir sind gut darin, miteinander relativ hierarchiearm zu arbeiten, wir verstehen etwas von der Identifikation mit einer Organisation und von Geschlechtergerechtigkeit, denn bei uns gibt es beispielsweise sehr viele Frauen in Führungspositionen.

Birte: Die anderen soziokulturellen Zentren und Soziokultur NRW sind aus meiner Sicht total wichtige Netzwerkpartner. Der Verband gibt Hilfestellung auf allen Ebenen, sei es durch gezielten Wissens- und Erfahrungsaustausch oder durch den persönlichen Kontakt zu anderen Akteur*innen. Zu den wichtigen Playern gehören natürlich auch die Förderorganisationen und die Landes- und Bundesministerien. Ohne sie könnten wir größere Projekte nicht stemmen.

Julia: Was sind denn Good-Practice-Beispiele für Demokratiestärkung, für politische Bildungsarbeit, die gut funktioniert haben und die es öfter geben sollte?

Birte: Wir konnten zusammen mit dem VCSD e. V. einen queeren Stammtisch bei uns etablieren. Die Aktiven unterstützen unsere Programme oder organisieren selbst Veranstaltungen bei uns im Haus. Dadurch werden wir inklusiver und barriereärmer. Es braucht sehr viel Zeit und Geduld, um das Vertrauen aufzubauen, denn es gibt auch Gegenwind. Aber es lohnt sich!

Gemma: Ein gutes Beispiel aus meiner Umgebung ist unser Bündnis gegen Rechtsextremismus. Vor ein paar Jahren hat eine bürgerwehrähnliche, neonazistische Gruppierung die Bevölkerung von Essen-Steele auf der Straße eingeschüchtert. Die Initiative „Steele bleibt bunt“ stellte sich dagegen. Sie ging von Akteur*innen im Stadtteil aus, und das ganze Team vom GREND hat sich aus Überzeugung sofort eingebracht. Wir haben Räume zur Verfügung gestellt, Techniker*innen organisiert, Geld besorgt, indem wir Anträge gestellt haben usw. Anfangs wehte uns ein starker Wind entgegen, auch aus der Politik. Heute wird „Steele bleibt bunt“ mit Preisen auf Bundesebene ausgezeichnet.

Tonja: Wir sind seit vielen Jahren Mitglied im Vorbereitungskreis für die Altenessen-Konferenz. Sie wurde ins Leben gerufen, um den Essener Norden aufzuwerten und die Verbundenheit der Bürger*innen im Stadtteil zu stärken. Themen wie das Image des Viertels, Stadtplanung, Sicherheit oder Gesundheit werden mit bis zu 150 Teilnehmenden diskutiert. Das war und ist eine tolle Demokratieerfahrung! Viele der Aktiven engagieren sich inzwischen auch in anderen Zusammenhängen.

Uwe: Wir haben einen ähnlichen Prozess über unser „Netzwerk Flüchtlinge Langendreer“ angestoßen. Darüber hinaus gibt es wirklich gute Projekte der kulturellen Bildung. Aber: Es sind und bleiben Projekte, die eingestellt werden müssen, wenn die Förderung endet. Das ist das Dilemma: Wir können nicht alle Projekte aus Bordmitteln weiterführen, auch wenn wir sie für total wichtig halten – und die, die mitgemacht haben, auch.

Julia: Im Kooperationsprojekt „politisiert euch!“ haben sich elf Mitgliedszentren von Soziokultur NRW zusammengeschlossen, um Veranstaltungen und Workshops zu aktuellen politischen Themen durchzuführen. Wie blickt ihr auf dieses Projekt?

Tonja: Das Kooperationsmodell finde ich total gut: Ein Arbeitskreis, der auch personelle Ressourcen hat, treibt regional bestimmte Themen voran, bündelt sie und entwickelt sie weiter. Das sollte es häufiger geben.

Uwe: Das Projekt ist super! Gerade für die Zentren, die keine großen personellen Kapazitäten haben, ist so eine Kooperation wertvoll. Ich würde mich freuen, wenn die Konzeptförderung verstetigt würde, um auch ländliche Räume noch stärker einzubeziehen.

Julia: Ihr seid nicht nur in verschiedenen Zentren aktiv, sondern auch als Vorständ*innen von Soziokultur NRW. Welche Aufgaben geht ihr auf Verbandsebene an?

Birte: Die finanzielle Situation der Mitgliedszentren wird uns auch in Zukunft weiter beschäftigen. Alle Zentren sind sehr auf Drittmittel angewiesen. Der Verband ist immer um Unterstützung bemüht und in intensivem Kontakt mit dem Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes NRW. Aber die Situation für die Zentren ist nicht leicht: Die Kostensteigerungen fressen uns auf.

Tonja: Ich glaube, dass wir laut sein müssen und auch laut sein können, denn wir haben viel anzubieten und vorzuweisen: Wir bringen vielfältige Erfahrungen und Kompetenzen aus 50 Jahren gesellschaftlicher und kultureller Arbeit mit. In vielerlei Hinsicht könnten wir viel selbstbewusster unterwegs sein. Das würde ich mir für den Verband wünschen.

Gemma: Wir müssen noch stärker deutlich machen, was für Konsequenzen es hätte, wenn man die Soziokultur schwächt. Ihr Wert ist riesig, gerade in einer Zeit, in der die Demokratie so stark infrage gestellt wird. Es würde teuer für uns als Gesellschaft, wenn man diese etablierten und funktionierenden Strukturen gefährdet, indem man sie nicht auskömmlich finanziert.

Julia: Was für ein schönes Schlusswort – herzlichen Dank für das Gespräch!

Birte Gooßes ist Geschäftsführerin der Altstadtschmiede in Recklinghausen.

Gemma Russo-Bierke ist Geschäftsführerin im Kulturzentrum GREND, Essen.

Uwe Vorberg hat geschäftsführende Aufgaben inne beim Bahnhof Langendreer, Bochum.

Tonja Wiebracht verantwortet die Projektarbeit in der kulturellen Bildung und im Stadtteil in der Zeche Carl, Essen.

Julia von Lindern ist zuständig für die Leitung des Projekts „ politisiert euch!“ beim zakk in Düsseldorf.

Dieser Text ist ein Auzug aus dem Jahresbericht 2022/23 von Soziokultur NRW. Er steht zum Download zur Verfügung und kann in gedruckter Form bestellt werden per Mail an lag@soziokultur-nrw.de.