Lagebericht zur Soziokultur in NRW

Von Heike Herold

Die multiplen Krisen der letzten Jahre verlangen der Kultur viel ab. Die Soziokultur ist in dieser komplizierten Zeit in verschiedenen Modi unterwegs: Zwischen Ungewissheit und Aufbruch, Erschütterung und Resilienz ist alles dabei.

Blickt man zurück auf die Jahre 2022 und 2023, drängen sich der russische Angriffskrieg auf die Ukraine seit Februar 2022 sowie der Überfall der Hamas-Terroristen auf Israel im Oktober 2023 als Erstes ins Blickfeld. Die brutalen Ereignisse hatten Auswirkungen auch auf den Kulturbetrieb in Deutschland und NRW und mischten sich mit den einschneidenden Erfahrungen der Klimakrise und der Corona-Pandemie. Begriffe wie Zeitenwende und Stapelkrisen beschreiben die globale gesellschaftliche Situation, in der sich Menschen neu zurechtfinden müssen.

In dieser angespannten Lage haben Kultureinrichtungen, hier: soziokulturelle Zentren, eine besondere Bedeutung. Sie machen niedrigschwellige Angebote zur kulturellen Teilhabe und schaffen Räume für Begegnung und Vernetzung, sie stärken den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Demokratie. In Krisen fühlen sie sich besonders zuständig. Dies wurde bereits im ersten Jahresbericht von Soziokultur NRW (Berichtszeitraum 2020/2021) ausführlich beschrieben.

In den Jahren 2022 und 2023 berichteten viele der Mitgliedseinrichtungen von Soziokultur NRW, dass sich die Krisen inzwischen nachhaltig auf Arbeitsorganisation und -kultur auswirkten. Nicht mehr die Programmgestaltung und die Projektförderung standen im Zentrum des Gestaltens. Vielmehr verlangten die Personalentwicklung einerseits und die zögerliche Haltung des Publikums andererseits besondere Aufmerksamkeit im Miteinander und im Management. Beide Aspekte waren mit Aufwand und Kosten verbunden, die aus dem Betrieb selbst hätten finanziert werden müssen – in der Corona-Zeit undenkbar. Umso wertvoller war es, dass die Regierungen in Bund und Land die Förderrichtlinien offener gestalteten und auch solche Anforderungen berücksichtigten.

Darüber hinaus kann es nicht genügend hervorgehoben werden: Die vielen Hilfsmaßnahmen und -programme der vergangenen Jahre haben das Kulturangebot in den Kommunen aufrechterhalten. Darum gilt der Politik und allen zuständigen Ministerien, insbesondere dem Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen (MKW) und der Beauftragten für Kultur und Medien (BKM), ein großer Dank für die umfassenden Beihilfen und Fördermittel!

Einen riesigen Anteil daran hatten die Neustart-Programme der BKM. Der Fonds Soziokultur entwickelte in diesem Rahmen mit „Profil: Soziokultur“ eine Prozessförderung, die die Weiterentwicklung von Einrichtungen und Vereinen durch Organisationsentwicklung, Kommunikationsstrategien oder Vernetzungsarbeit zum Ziel hat. Wie kein anderes erfuhr dieses Programm enorme Aufmerksamkeit und Resonanz von den Akteur*innen aus der (Sozio-)Kultur, denn hier konnten professionelle Beratung und Begleitung für eine Zukunftsaufstellung engagiert werden. Glücklicherweise wird dieses Programm fortgesetzt.

2022: Aufbruch ins Ungewisse

Die Auswirkungen der Corona-Pandemie waren 2022 weiter spürbar, auch wenn die rechtlichen Beschränkungen sukzessive aufgehoben wurden. In den ersten Monaten des Jahres waren viele Veranstaltungen Nachholtermine aus den Jahren 2020 oder 2021. Internationale Künstler*innen waren noch nicht wieder so verfügbar wie gewohnt. Tourabsagen gehörten zu den alltäglichen Nachrichten. Selbst wenn so manches Radioangebot, mancher Podcast und ganz besonders digitale Meetings mit Kooperationspartner*innen erhalten blieben, machte man sich auf den Weg in eine jetzt neue analoge Wirklichkeit. Mit sehr viel Bedacht kehrten die Gruppen zurück in die Räume und setzen ihre zivilgesellschaftliche Arbeit fort.

So stieg auch die Zahl der Veranstaltungen ab dem Frühjahr 2022 wieder an, noch mehr im Sommer. Die Entdeckung des Außenbereichs war eine der wesentlichen Neuerungen dieser Tage. Die Investitionen in eine gemütliche Außengestaltung und gute technische Infrastruktur in den Jahren davor waren gut angelegtes Fördergeld.

Viele Teams lösten sich langsam aus der Kurzarbeit und kehrten zu den alten Bedingungen in die Einrichtungen zurück. Die Optimierung der Arbeitsabläufe, die Überbrückung von Ausfällen, mehr Öffentlichkeitsarbeit und die Teamentwicklung bestimmten den Arbeitsalltag und trafen auf zwei grundlegende Themen, die längst nicht überwunden waren: die Entlohnung der Arbeit in den Zentren und den Generationenwechsel.

Die Gründer*innengeneration in der Soziokultur stand in vielen Häusern vor der teilweise schmerzhaften Ablösung, in einigen war sie gerade vollzogen worden. Diese fand – nicht immer konfliktfrei – in den Vorständen wie in den Geschäftsführungen statt. Doch auch langjährig beschäftigtes Personal, besonders das technische, wechselte nun häufiger in besser bezahlte Stellen.

Die Corona-Krise hatte gezeigt, wie empfindlich die Arbeitsverhältnisse im Kulturbetrieb sind. Wie in allen Branchen gab es eine Auseinandersetzung mit der Life-Work-Balance, wichtigeres Thema war allerdings die überwiegend nicht tarifliche Bezahlung. Die Ansprüche an Lohn und Gehalt stiegen. Hauseigene Lohnsysteme wurden überdacht. Wenige führten eine tarifliche oder optimierte Bezahlung ein. Doch dieser berechtigte Anspruch kollidierte mit den finanziellen Möglichkeiten.

Leider kehrte das Publikum nur zurückhaltend in die Kulturveranstaltungen zurück. Die Vorverkaufszahlen blieben weit hinter den Erwartungen zurück, der Ticketkauf wurde spontan entschieden. Für viele schien die heimisch neu eingerichtete Umgebung verlockender zu sein, als Menschen in gefüllten Veranstaltungssälen zu begegnen.

2023: Resilienz und Reflexion

Das Jahr 2023 war für viele Häuser geprägt von zwei gegenläufigen Bewegungen: Auf der einen Seite war nach überstandener Corona-Krise ein neues Selbstbewusstsein entstanden. Auch die umfassenden Unterstützungsleistungen von Bund und Land ließen ein Gefühl der Stabilität entstehen. Gleichzeitig sorgten die vielen geopolitischen Konflikte für große Erschütterungen. Obwohl Klimaschutz und Nachhaltigkeit, Demokratie, Gerechtigkeit und Inklusion zu den Grundfesten der Soziokultur gehören, lösten das Erstarken der Rechten und ihre zunehmende politische Einflussnahme, der andauernde Krieg in der Ukraine (später der Hamas-Überfall) und die darauffolgende Energiekrise und Inflation sowie Preissteigerungen große Unruhe aus. „Worauf kann Soziokultur Einfluss nehmen? Was ist ihre Wirkung?“, fragten sich viele.

Das eingeübte Programm aus Konzerten, Lesungen, Kursen wurde vorsichtig wieder aufgenommen, allerdings immer mit einem evaluierenden Blick auf den Zuspruch und die Wirksamkeit. Veranstaltungsformate und auch -orte wurden überdacht, mit Programmbausteinen wurde experimentiert, wenn Fördermittel aus staatlichen Sonderprogrammen die Möglichkeiten eröffneten. Im Verlauf des Jahres entstanden neue Kooperationen mit anderen kulturellen und sozialen Trägern, insbesondere um neue, jüngere Zielgruppen zu erreichen und das Programm zu erweitern. Dort, wo neue – meist gesellschaftliche – Inhalte sowie Austausch und Begegnung lockten, kam besonders viel Zuspruch, eine neue soziokulturelle Qualität, die sich teils auch bei der Gewinnung von Ehrenamtlichen bemerkbar machte.

Sobald ein bestimmter Professionalisierungsgrad erreicht wird, entstehen Ansprüche an Verwaltung, Programmplanung und Leitung. Auf den Vorständ*innen und Geschäftsführungen lastete also eine große Verantwortung. Nicht nur die vielen Sonderfördermittel mussten abgerechnet werden. Es galt, sich über Ziele, Strategien, Selbstverständnis, Teamkultur, Arbeitsprozesse, Organisationsstrukturen, Führungsmethoden und Arbeitsergebnisse auseinanderzusetzen. Besonderheiten im soziokulturellen Umfeld sind die vielen Teilzeitkräfte, Honorarstellen und Ehrenamtlichen. Hier herrscht eine ausgeprägte soziale und kommunikative Dynamik. Dort, wo die Belastung zu groß wurde, fielen auch viele Entscheidungen gegen das Arbeiten im Kulturbetrieb. Dementsprechend entscheidend war die Herausforderung, mit der hohen personellen Fluktuation bei den Mitarbeitenden umzugehen.

Dennoch konnten die soziokulturellen Zentren trotz der Schwierigkeiten auch Erfolge verbuchen, darunter die Weiterentwicklung des soziokulturellen Profils, die Förderung digitaler Partizipation und die Etablierung innovativer Bildungsformate für Kinder und Jugendliche. Auch die Zusammenarbeit mit externen Partner*innen, wie dem Kulturamt der Stadt und anderen Kulturorten, wurde intensiviert. Die Kommunikation mit Politik, Verwaltung und Partner*innen aus der Wirtschaft wurden in der Kommune intensiv gepflegt. Auf der Landesebene übernahm dies Soziokultur NRW mit einem engagierten Vorstand, um ein besonderes Anliegen nach vorne zu bringen: die strukturelle Förderung der Soziokultur.

Ausblick auf das Jahr 2024

Die Berichte über die Jahre 2022 und 2023 zeigen einmal mehr den Mut und die Veränderungsbereitschaft der Soziokultur, sich zukunftsorientiert aufzustellen. Auch 2024 beteiligen sich soziokulturelle Zentren an der kulturellen Grundversorgung, an der Demokratiestärkung und an nachhaltiger Entwicklung. Schon seit Jahrzehnten tragen sie zur gesellschaftlichen Resilienz bei und wollen es auch weiterhin tun. Sie zahlen dafür aber einen hohen Preis.

Kostensteigerungen und die politische Situation verlangen den soziokulturellen Häusern und Initiativen gerade enorm viel ab. Deshalb wünschen sich alle Verantwortlichen, Mitarbeitenden, Honorarkräfte, Auszubildenden, Minijobber*innen, Aushilfen, Ehrenamtlichen und Künstler*innen aus allen Sparten den Schulterschluss mit Politik und Verwaltung. Es wird für die Gesellschaft entscheidend sein, dass die Potenziale soziokultureller Praxis auch künftig wertgeschätzt, erhalten, gestärkt und vor rechtsextremen Angriffen geschützt werden. In den Wahljahren 2024 und 2025 werden hierfür wichtige Weichen gestellt, und die Signale müssen eindeutig sein. Jetzt geht es darum, gemeinsam ins Handeln zu kommen.

Dieser Text ist ein Auzug aus dem Jahresbericht 2022/23 von Soziokultur NRW. Er steht zum Download zur Verfügung und kann in gedruckter Form bestellt werden per Mail an lag@soziokultur-nrw.de.