Trotz Staus, Umleitungen und Streckensperrungen: Anlässlich der Podiumsdiskussion „100 Jahre Soziokultur? Die nächsten 50 Jahre!“ in der Wuppertaler börse mobilisierten die Veranstalter*innen eine angeregte Debatte zwischen Politik, Verwaltung und Kultur. Vor über 100 Gästen diskutierten die Podiumsteilnehmenden über die Bedeutung und Förderung der Soziokultur. Eingeladen hatten die Wuppertaler börse und Soziokultur NRW. Die Veranstaltung bildete – zusammen mit einem Fehlfarben-Konzert – den Auftakt zum 50. Jubiläumsjahr der börse.
Auf dem Podium (v.l.n.r.): Peter Grabowski, Heike Herold, Andreas Bialas, Frank Jablonski, Lukas Hegemann und Uwe Schneidewind. Ministerin Ina Brandes musste ihre Teilnahme auf dem Podium wegen einer dienstlichen Verpflichtung kurzfristig absagen. Foto: © Ralf Silberkuhl.
Identitätsort und Kitt für die Gesellschaft
Uwe Schneidewind, Oberbürgermeister der Stadt Wuppertal, riss bereits in seiner Eröffnungsrede die Themen des Abends an. Die börse sei ein Identitätsort über Generationen und Milieus hinweg und einer der seltenen Orte, die so zum Kitt für die Gesellschaft beitragen könnten. Orte wie dieser hätten eine zentrale Funktion, wenn es darum gehe, den Erhalt eines friedlichen und demokratischen Miteinanders in der Stadtgesellschaft zu gestalten. Und er knüpfte dann eine entscheidende Frage an: Wie schaffen wir die Ressourcen, die finanziellen Grundlagen, um diese Orte und ihre Netzwerke aufrechtzuerhalten? Diese Frage treibe gerade nicht nur das Land mit seinen klammen Kassen um, sondern auch viele Städte, die in die Haushaltssicherung zu rutschen drohen.
Uwe Schneidewind, Oberbürgermeister der Stadt Wuppertal, beim Grußwort zur Podiumsdiskussion. Foto: © Ralf Silberkuhl.
„Uns fehlt heute die Großzügigkeit“
„Unsere Arbeitsbedingungen haben sich in den letzten Jahren stark verändert“, hielt Lukas Hegemann, Geschäftsführer der börse, fest: Bis 2019 sei es möglich gewesen, mit erfolgreichen Formaten wie Partys und Konzerten andere Kulturveranstaltungen oder Angebote der kulturellen Bildung quer zu finanzieren. In den Corona-Jahren hätten die Hilfsprogramme recht gut gegriffen und Kündigungen verhindert. Doch seitdem fehlten Einnahmen, das Publikumsverhalten habe sich geändert. „Wenn ich an die politische oder kulturelle Bildung denke oder daran, einzelne Künstler*innen nach vorne zu bringen, heißt das: Uns fehlt heute die Großzügigkeit“, unterstrich er.
Ein kurzes Stimmungsbild aus dem Plenum zeigte, dass ca. drei Viertel der Anwesenden aus soziokulturellen Zentren diese Einschätzung teilten – und damit letztlich auch die Sorge um die finanzielle Situation der Zentren in der Zukunft.
Lukas Hegemann, Geschäftsführer der börse Wuppertal, sprach über die kritische Finanzsituation in den soziokulturellen Zentren. Foto: © Ralf Silberkuhl.
Verlässliche Förderstrukturen schaffen
Wie kann man die Förderung, zumindest in NRW, so aufstellen, dass sie verlässlich ist und gleichzeitig strukturelle Entwicklungsmöglichkeiten entstehen können? Die Antwort von Heike Herold, Geschäftsführerin von Soziokultur NRW, war eindeutig: Sie stellte in kompakter Form die Strukturförderung vor, die Soziokultur NRW erarbeitet hat, um die finanzielle Ausstattung der soziokulturellen Zentren zu verbessern. Besonders wichtig: Die Strukturförderung ist keine reine Projektförderung, sondern kann auch Personal-, Programm- und Betriebskostenzuschuss sein. Die veranschlagten Kosten dafür: 7 Mio. Euro. „Damit sind wir längst noch nicht in einer Komfortzone angelangt. Das ist vielmehr eine Summe, die wir als Verband ebenso wie unsere Mitglieder zurzeit händeln können“, so Heike Herold. Und natürlich könnten und wollten sich die Zentren nicht auf dieser Art Förderung ausruhen. „Wir haben Lust auf neue, parallel bestehende Geschäftsmodelle, mit denen wir auch Impulse in die Kulturlandschaft hineinbringen wollen.“
Heike Herold, Geschäftsführerin von Soziokultur NRW, stellte das Modell der Strukturförderung für NRW vor. Foto: © Ralf Silberkuhl.
„Das sind Prekaritätsprofis!“
Mit Blick auf die Kommunen ergänzte Schneidewind: „Wir haben auch in den kommunalen Haushalten gewaltige Ungleichgewichte zwischen den etablierten Kultursparten und der Soziokultur.“ Angesichts angespannter Kassenlagen könne man bei Bund, Ländern und Kommunen der Frage nicht mehr ausweichen, mit welchem Hebel das Kulturleben einer Stadt in produktiver Weise gestaltet werde. Denn auch in den kommenden Jahren seien leere Kassen zu erwarten. Diese schwierige Lage, so der Oberbürgermeister der Stadt Wuppertal, mache die Soziokultur auch unter einem anderen Aspekt interessant: „Das sind Prekaritätsprofis – durchaus im positiven Sinne! Die Soziokultur hat es schon oft geschafft, unter prekären Bedingungen Hochwertiges zu organisieren.“
Systemfehler in der Förderlogik
Doch welchen Zweck verfolgen Staat oder Land mit der Kulturförderung? Peter Grabowski, Moderator der Podiumsdiskussion, sprach von einem Systemfehler, denn ganz offensichtlich seien Kultureinrichtungen, die wie die Soziokultur für gesellschaftlichen Kitt sorgten, dramatisch unterfinanziert. Andreas Bialas, kulturpolitischer Sprecher der SPD im Düsseldorfer Landtag, griff den Faden auf: „Kunst und Kultur sind in erster Linie – und zurecht – Sache der Kommunen. Deshalb müssen wir dafür sorgen, dass die Kommunen genügend Geld haben und Mittel von Land und Bund erhalten.“ Und er ergänzte: „Wenn man begrenzte finanzielle Mittel hat, muss man anfangen umzuverteilen. Das tut weh!“
Peter Grabowski (der kulturpolitische reporter) moderierte die Diskussion. Foto: © Ralf Silberkuhl.
Weniger Bürokratie in der Förderung
Frank Jablonski, kulturpolitischer Sprecher der Grünen im Landtag NRW, griff die Strukturförderung noch einmal auf: Er verwies darauf, dass zurzeit Gespräche zwischen Soziokultur NRW und der Ministerin für Kultur und Wissenschaft liefen, um die Förderung der Soziokultur zu verstetigen und sie vom bürokratischen Aufwand zu befreien „Wir finden es gut, wenn es weniger Bürokratie gibt in der Fördersystematik“, so Jablonski. Gerade eine Basisförderung, die nicht mehr der Logik einer Projektförderung folge, sei wichtig und richtig. „Dabei kann und darf es aber nicht darum gehen, die verschiedenen Kultursparten gegeneinander auszuspielen!“
Andreas Bialas (li.), Kulturpolitischer Sprecher der SPD im Landtag, und Frank Jablonski (re.), Kulturpolitischer Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen im Landtag NRW. Foto: © Ralf Silberkuhl.
Was wollen wir fördern?
Relative Einigkeit bestand darüber, dass ein allgemeiner Ausbau der Kulturförderung angesichts auch perspektivisch leerer Kassen nicht zu erwarten sei. Von daher sei es Zeit für eine groß angelegte kulturpolitische Diskussion darüber, was wir fördern wollen. Welche Einrichtungen und Veranstaltungen sollen angesichts knapper Förderbudgets Mittel erhalten? Und welche nicht? Zugleich wurde deutlich, dass hier auch Kriterien gefragt sind, warum wir was fördern – ob Oper, Soziokultur oder andere Sparten. Dass der gesellschaftliche Kitt dabei berücksichtigt werden müsse, unterstützten alle Podiumsteilnehmer*innen. „Wenn wir uns unvoreingenommen die Frage heute stellen, auf welche Sparten und Einrichtungen wir unsere Fördergelder verteilen wollen, kämen wir bei ganz anderen Ergebnissen raus“, so Jablonski.
Über 100 Zuschauer*innen waren bei der Podiumsdiskussion zu Gast. Foto: © Ralf Silberkuhl.
Was braucht’s?
Bekanntermaßen dauert es lange, alte Bärte abzuschneiden und etablierte Fördermechanismen aufzubrechen – in den Institutionen wie auch in den Landes- und Kommunalparlamenten. Es bleibt viel zu tun, in den nächsten 50 Jahren.