Zur Neubestimmung des Kulturbegriffs und der Prinzipien staatlicher Kulturförderung

Beitrag von Peter Grabowski (der kulturpolitische reporter) | SOZIOKultur 3/2023.

Wie nahezu alle Bereiche des Lebens und der Gesellschaft steht der Kultursektor vor großen Herausforderungen. Einige sind ziemlich alt, andere noch recht neu. Die sicherlich wichtigsten: Macht und Führung, Digitalisierung, Künstliche Intelligenz, Diversität, Vergütung und soziale Sicherung, Nachhaltigkeit. In der Gesamtschau von Publikums- und öffentlicher (Fach-)Resonanz auf die staatlich finanzierten Kulturangebote stellt sich außerdem die Frage nach der Qualität in verschiedensten Dimensionen. Den Qualitäts- wie auch den Nachfrage-Aspekt ernsthaft zu thematisieren, wird aber regelmäßig als neoliberale Quotengeilheit und Verstoß gegen die grundgesetzlich verbriefte Kunstfreiheit gebrandmarkt. Dieses Framing ist die über Jahrzehnte errichtete Brandmauer, mit der sich der öffentlich geförderte Kultursektor gegen seine Hinterfragung schützt. Die Debatte um das Buch „Der Kulturinfarkt“ des Autorenquartetts Haselbach, Klein, Knüsel, Opitz vor elf Jahren hat das eindrucksvoll bewiesen.

Die große Frage nach dem „Warum?“

Doch der Elefant steht ja weiterhin im Raum: Alle können ihn sehen, niemand spricht über ihn. Er verkörpert eine einfache Frage, die sich hinter all den anderen – unbe-streitbar wichtigen – Themen verbirgt: Warum machen wir das? Damit meine ich nicht: Warum spielen und gucken wir Theater, schreiben oder lesen Bücher, machen oder hören Musik? Das können jedenfalls die allermeisten, die das tun, ganz gut beantworten. Die in unserem Kontext bedeutsame Frage lautet stattdessen: Warum wenden wir als Staat jedes Jahr eine zweistellige Milliardensumme aus Steuergeldern vor allem fürs Theaterspielen, Musik machen, Bilderaufhängen und Bücherausleihenkönnen auf? Diese Frage nach der formalen wie inhaltlichen Begründung von Kulturförderung durch die öffentliche Hand und damit nach ihrer Legitimation rührt an die Grundfesten.

Kultur ist faktisch zwar ein Staatsziel – in 15 von 16 Länderverfassungen, im Einigungsvertrag und in diversen Urteilen des Bundesverfassungsgerichtes festgeschrie-ben und bestätigt –, es gibt jedoch keine formale Verpflichtung zur Förderung von diesem oder jenem oder zur Verausgabung einer bestimmten Summe. Auch inhaltlich existiert kein zwingender Grund für staatliche Kulturförderung: Wir wissen gar nicht, ob „Kultur“ – damit sind in diesem konkreten Zusammenhang die mit öffentlichen Mitteln finanzierten Kulturangebote gemeint – für die Menschen tatsächlich „gut“ oder sogar unverzichtbar, ob sie wirklich der vielbeschworene „Kitt der Gesellschaft“ ist. Das behaupten zwar einige vor allem aus dem Biotop selbst vehement, aber empirische Belege dafür fehlen. Fazit: Wir können weder inhaltlich schlüssig begründen, warum wir als Staat Geld für Kultur ausgeben, noch sind tatsächlich sachliche Kriterien entscheidend für die Verteilung der zur Verfügung stehenden Mittel – stattdessen ist allein die kulturgeschichtliche Zeitachse ausschlaggebend.

Der Kulturstaat Deutschland braucht ein Update

An dieser Stelle wäre meine journalistische Arbeit als Berichterstatter, Analyst und Kommentator üblicherweise getan, aber dabei will ich es dieses Mal nicht belassen. Deshalb werde ich einen Gedanken in den Raum stellen – sozusagen in den Raum mit dem Elefanten –, in der Hoffnung auf dialektische Schärfung. Ich bin der Ansicht, dass wir als Gesamtgesellschaft neu bestimmen sollten, welchen Kultur-Begriff unser Staat hat und welches Förderprinzip sich daraus ergibt. Das könnte in einer Fortsetzung der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ aus den Nuller Jahren geschehen oder zumindest daran anknüpfen, vielleicht im Rahmen des sogenannten Plenums, das die Berliner Ampel sich in den Koalitionsvertrag geschrieben hat. Dazu sollte auch gehören, die Aufgabenteilung zwischen Bund, Ländern und Kommunen neu zu verhandeln und die 17 Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen in den drei Dimensionen Ökologie, Ökonomie und Soziales in der Kulturförderung fest zu verankern. Auf dieser Grundlage müsste dann ebenfalls neu bestimmt werden, wie staatliche Förderung warum auf die einzelnen Akteur*innen verteilt wird – und für dieses „Warum?“ möchte ich einen Vorschlag machen.

Er beruht zunächst auf dem Begriff und Konzept der allgemeinen Daseinsvorsorge, das es bis in die Grundlagenverträge der Europäischen Gemeinschaft beziehungsweise Union geschafft hat. Für die Kulturförderung in Deutschland ist das nicht weniger als von existenzieller Bedeutung, was leider kaum jemand weiß. Denn es ist dieser Grundgedanke der allgemeinen Daseinsvorsorge durch den Staat in den Rechtsgrundlagen der Europäischen Union, der unsere Art der Finanzierung staatlicher Kulturinstitutionen wirtschafts- und beihilferechtlich überhaupt erst möglich macht. Die gilt nämlich nur deshalb nicht als „Subvention“, sondern als originär staatliche Vorsorge-Leistung für alle Bürger*innen, vergleichbar mit Polizei und Feuerwehr, Krankenhäusern, Müllent- und Wasserversorgung, Kindergärten, Schule und Hochschule. Subventionen dagegen sind im europäischen Wirtschafts-, genauer gesagt im dafür maßgeblichen und es normierenden Wettbewerbs- und Beihilferecht, finanzielle Unterstützungsleistungen des Staates an privatwirtschaftliche Akteur*innen, die mit Gewinnerzielungsabsicht unternehmerisch tätig sind. Weil das auf die Theater, Orchester, Museen und Bibliotheken der öffentlichen Hand erkennbar nicht zutrifft, sind die Aufwendungen dafür aus Steuermitteln keine Subventionen.

Gemeinwohl und Daseinsvorsorge

Das komplementäre Gegenstück für diese Legitimationsgrundlage und ihre Ausgestaltung im Rahmen der allgemeinen Daseinsvorsorge ist das „Gemeinwohl“. Dabei handelt es sich um einen zwar geläufigen, aber ein bisschen schwammigen Begriff. Er wurde ausgerechnet in den Vereinigten Staaten während der neoliberalen Hochphase der 1980er und 1990er Jahre konkretisiert, als dort eine Diskussion über den „Wert“ von öffentlichen Leistungen entbrannte. Im Zuge dessen hat der Harvard-Professor und damals führende US-Forscher zu Nonprofit-Organisationen, Mark Moore, das Konzept des „Public Value“ entwickelt. Es fußt kurz gesagt auf der Idee, dass sich das Gemeinwohl aus den Bedürfnissen der gesellschaftlichen Gesamtheit ergibt. Moore nennt dafür vier verschiedene Dimensionen beziehungsweise Parameter:

  • Unmittelbare Nützlichkeit
  • Moral und Ethik
  • Politisch-soziale Beziehungen und Prozesse
  • Ästhetisch-hedonistische Interessen

Mit ihrer Hilfe kann man auf verschiedensten Wegen für unterschiedliche Angebote und Leistungen ermitteln, welchen Public Value sie haben, also ob und in welchem Maß sie zum Gemeinwohl beitragen. Je höher der Wert, desto größer die Rolle in der allgemeinen Daseinsvorsorge. Kunstmuseen oder Schauspielhäuser würden in dieser Systematik bei der lebenspraktischen „Nützlichkeit“ (im Alltag) naturgemäß niedrig ranken. Ob sie aber nicht nur beim Parameter „Ästhetisch-hedonistische Interessen“ höhere Ergebnisse erzielen, sondern auch bei „Moral und Ethik“ und/oder bei „Politisch-soziale Beziehungen und Prozesse“, würde von ihrer jeweiligen Programmatik, ihren Vermittlungsangeboten et cetera abhängen. Das kann ja jede*r mal für sich in den verschiedenen Kultursparten durchspielen oder -denken. Einen theoretisch wie praktisch weiteren Rahmen spannt der deutsche Wirtschaftspsychologe Timo Meynhardt in zahlreichen Veröffentlichungen zum Thema; er hat auch am bisher zweimal erschienenen „GemeinwohlAtlas“ mitgewirkt (2015 und 2019).

Kulturförderung am Public Value ausrichten

Ich halte fest: Es gibt in Deutschland einen Verfassungsauftrag zum Schutz und zur Förderung der Kultur und die dafür vom Staat aufgewendeten Mittel sind rechtlich erst dadurch legitimiert, dass sie im Rahmen der allgemeinen Daseinsvorsorge einen essenziellen Beitrag zum Gemeinwohl finanzieren. Dann wäre es in der Folge aber nur logisch, die Verteilung dieser Mittel auch just an diesem Beitrag der einzelnen Kulturangebote auszurichten – also entsprechend ihrem jeweiligen Public Value. Wie das konkret umgesetzt werden kann, ist eine Frage politischer Aushandlung.

So ein Systemwechsel bedeutete selbstverständlich eine große Herausforderung für alle Beteiligten und könnte nicht nur für manche Bühne zum bösen Erwachen aus einer Relevanz-Illusion werden. Die Bibliotheken, die Soziokultur, die sogenannten Bespieltheater außerhalb der Metropolen und vor allem die Kultur-Akteur*innen samt freier Szene in den ländlichen Räumen würden auf diesem Wege aber ganz sicher nicht mehr nur wohlfeile verbale Wertschätzung erhalten, sondern endlich auch eine auskömmliche Finanzierung. Und für den seit Jahrzehnten im kulturpolitischen Raum gefangenen Elefanten verhieße es: Freiheit!


Dieser Text beruht auf einer Keynote für die Tagung „Tabubruch! Neue Prioritäten und Wege für eine transformative Kulturpolitik“ von Kulturpolitischer Gesellschaft und der Bundesakademie für Kulturelle Bildung Ende Mai dieses Jahres in Wolfenbüttel. Es handelt sich um eine gekürzte und für das Lesen modifizierte Version.

Die Ausgabe 3/2023 des Magazins SOZIOKultur zum Thema Strategien findet sich hier zum Download.