von Heike Herold, Soziokultur NRW

Liebe Akteure, liebe Freundinnen und Freunde der Soziokultur,

nach mittlerweile viermonatigem Andauern der Corona-Krise wird es Zeit für einen neuen Lagebericht aus der Soziokultur. Trotz der vielen kurzfristig aufgelegten Hilfsmaßnahmen in der Zeit des Lockdowns, also der ersten Phase der Pandemie, ist der Übergang in die zweite Phase mit ersten Öffnungsmöglichkeiten von sehr viel Unruhe in der Kultur beherrscht worden. Die ersten finanziellen Hilfen wie Kurzarbeitergeld, Soforthilfe und das MKW-Hilfsprogramm Soziokultur haben in den meisten soziokulturellen Einrichtungen schnell gegriffen. Und auch die nächsten Programme auf Bundes- und Landesebene sind angekündigt. Die Konkretisierungen der Konjunkturpakete stehen noch aus. Gleichzeitig verursachen der neue Corona-Hotspot im Kreis Gütersloh sowie die unklare Perspektive hinsichtlich mittel- bis langfristiger Planungen im Veranstaltungsgeschäft viel Unsicherheit. Das hat verschiedene Gründe, denen ich im Folgenden nachgehen werde.

Der Schockstarre als erster Reaktion auf den Ausbruch der Pandemie Mitte März folgte in der Soziokultur schnell ein handlungsorientierter Pragmatismus. Konzerte, Poetry Slams und Performances fanden in abgewandelter Form schnell auch online statt, Workshops wurden in digitale Formate verwandelt, die ersten Autokinos und dann auch Autotheater wurden ins Leben gerufen und Veranstaltungssäle wurden zu Filmsets für Clips von Künstler*innen. Für die Nachbarn wurden Konzerte im Hinterhof gegeben. In manchen Häusern wurde auch die Sommerrenovierung vorweggenommen.

Auch das soziale Engagement ließ nicht lange auf sich warten. So wurde beispielsweise die Lebensmittelausgabe für die geschlossene Tafel vor Ort übernommen, es wurde für Bedürftige gekocht, der Welt-Flüchtlingstag wurde zum Anlass für eine erste öffentliche, politische Aktion im Stadtraum genommen. All das generierte Aufmerksamkeit und Verbindungen weit über das Stammpublikum hinaus. So manche Spende konnte in dieser Zeit an Künstler*innen und freiberuflichen Vermittler*innen, Techniker*innen usw. weitergereicht werden. Ihnen allen ist  in der Krise unverschuldet jegliche Verdienstmöglichkeit genommen geworden.

Schließlich folgten die ersten Erlasse mit stufenweisen Öffnungsmöglichkeiten. Anfang Mai durften Weiterbildungseinrichtungen, Museen, Ausstellungen und Musikschulen, Bibliotheken und Archive unter strengen Auflagen wieder öffnen. Ab Mitte Mai wurden kleinere Konzerte und andere öffentliche Aufführungen unter freiem Himmel zulässig, mit strengen Regelungen, Mund-Nase-Bedeckung und einem mit den örtlichen Behörden abgestimmten Konzept auch in Gebäuden. Auch der Probenbetrieb in Musikschulen und Kultureinrichtungen konnte vorsichtig wieder aufgenommen werden, für Chöre und Orchester galten erweiterte Abstandsregeln. Ab dem 30. Mai konnten Kinos, Theater, Opern und Konzerthäuser unter Beachtung des Mindestabstands von max. 100 Besucher*innen öffnen. Mit festen Sitzplätzen braucht das Publikum jetzt nicht mal mehr einen Mund-Nasen-Schutz.

In dieser Zeit wurde vielen bewusst, dass die Wiederaufnahme des Kulturbetriebs alles andere als rentabel sein würde. Jetzt, da die Gastronomiebetriebe und Kulturveranstalter*innen mit Open Air-Angeboten erste Erfahrungen sammeln konnten, ist das Ergebnis mehr als ernüchternd. Die derzeitige Teilöffnungen sind finanziell weit problematischer als die komplette Schließung. Die Vorbereitung und Umsetzung der  Hygiene- und Schutzmaßnahmen sind sehr aufwändig, es braucht einen hohen Personaleinsatz und viel Umsicht, um den Kontakt mit Besucher*innen und Gästen adäquat aufzunehmen.

Die Soziokultur steht für die Wohnzimmeratmosphäre des dritten Ortes, sucht die Begegnung mit dem Gegenüber für das Miteinander. Die Besucherinnen sind jedoch noch sehr vorsichtig. Die, die kommen, scheinen sehr glücklich und froh über das Wiedererwachen des gesellschaftlichen Lebens. Insbesondere viele der älteren Gäste bleiben aus Unsicherheit noch Zuhause. Auskömmliche Einnahmen generiert das nicht. Nicht jetzt und nicht vorausgreifend, denn der gesamte Vorverkauf für Veranstaltungen im Herbst und im Folgejahr liegt aktuell brach. Die Reduzierung der Gagen für Künstler*innen wäre ein fatales Signal für eine Berufsgruppe, die ohnehin unter der Krise stark leidet. Aber auch die Mitarbeitenden in den Zentren haben keinen leichten Stand in dieser Zeit. Die meisten waren in Kurzarbeit und mussten und müssen von den ohnehin schon kleinen Gehältern leben.

Und genau darin steckte bisher einer der Konstruktionsfehler der bisherigen Hilfsprogramme: In der Soziokultur wird ein Großteil des Personals von den Einnahmen aus Gastronomie, Veranstaltungen und Vermietungen finanziert. Jetzt ist es an der Zeit die Mitarbeitenden wieder in die Zentren zu holen. Wenn aber das Personal wieder eingesetzt wird, entfällt das Kurzarbeitergeld – gleichzeitig liegen aber die Einnahmen bei ca. 30 Prozent des Vorjahres und werden nicht aus den aktuellen Soforthilfen und auch nicht aus den kommenden Überbrückungshilfen aus dem Konjunkturpaket des Bundes gedeckt.

Wo also sparen? Das ist eigentlich kaum möglich. Ganz im Gegenteil. Noch immer müssen Veranstaltungen verschoben werden, Festivals zumeist sogar in das nächste Jahr, Projekte werden um- oder neu geplant, umgewidmet oder neu ausgerichtet. Sicherheitskonzepte, die Abstimmung mit den Behörden sowie die Netzwerk- und Öffentlichkeitsarbeit nehmen zusätzlich viel Zeit in Anspruch.

Alle sind immer wieder mit der Frage beschäftigt, ob am Ersatzprogramm festgehalten wird oder das „Risiko des Normalbetriebs“ eingegangen wird. Viele planen daher den Wiedereinstieg erst nach den Sommerferien.

Das aktuelle Infektionsgeschehen in den Kreisen Gütersloh und Warendorf zeigt, wie wenig wir uns in Sicherheit wiegen können. Vorsicht ist weiter geboten.

Weitere gut auf den tatsächlichen Bedarf hin entwickelte Hilfsprogramme sind vor diesem Hintergrund besonders notwendig. Und hierin liegt die wichtige Aufgabe der konjunkturellen Hilfen des Landes. Bundes- und Landesprogramme müssen sich sinnhaft ergänzen. Wie die konkreten Bedingungen zur Ausreichung der Fördermittel aus dem Kultur- und Konjunkturpaket aussehen, ist noch unbekannt. Gewiss ist, dass die eine Milliarde Euro in verschiedene Zuständigkeiten abgegeben wird. Fördertechnisch ist das nachvollziehbar, um die Mengen an Geld verarbeiten zu können. Problematisch wird das, wenn Antragssteller*innen an mehreren Stellen Anträge stellen müssen und der bürokratische Aufwand sich dadurch potenziert.  

Die kritische Auseinandersetzung mit allem, was derzeit unsere Kulturarbeit und unser Leben ausmacht, ist absolut gerechtfertigt. Noch wichtiger ist es jetzt, Perspektiven zu entwickeln. Das Corona-Brennglas, das jetzt vier Monate auf alle Gesellschaftsbereiche gelegt wurde, zeigt auf, wo wir genauer hinschauen müssen. Die Agenda wird lang. Gestalten ist angezeigt. Das betrifft des Kultursektor genauso wie das gesellschaftliche Umfeld. Es beginnt bei der Kunstfreiheit, betrifft die Arbeitsbedingungen in Kunst und Kultur, die Zukunftsfähigkeit kultureller Angebote in einer sich weiter wandelnden Welt. Sind Wachstum und Beschleunigung noch die richtigen Motive für Entwicklung? Können Digitalität und künstliche Intelligenz „gewinnbringend“ eingesetzt werden? Wie sieht eine Kulturpolitik des 21. Jahrhunderts aus? Warten wir nicht erst ab, bis die Krise überwunden ist. Ergreifen wir jetzt die Möglichkeit, den Diskurs fortzusetzen und gesellschaftliche und kulturelle Prozesse mit fortlaufenden Förderprogrammen und Corona-Konjunktur-Hilfen zu verändern.

Heike Herold am 29.06.2020