Zur Weiterentwicklung der soziokulturellen Arbeit mit Geflüchteten
von Robert Hillmanns

Überarbeitetes Typoskript des Vortrages von Robert Hillmanns auf der Tagung „Flucht und Migration“ der LAG Soziokultureller Zentren Nordrhein-Westfalen am 19.04.2018 in Köln

Info zum Autor


„Wir sollten uns lösen von der immer noch spürbaren Wirkung der ‚Das Boot ist voll‘ Metapher. Es geht im Deutschland des 21. Jahrhunderts nicht um die Gefahr der ‚Überfüllung‘, sondern um das Risiko des Mangels an kreativen, leistungsfähigen und leistungswilligen Menschen. Wer als Flüchtling den Weg aus den desolaten Verhältnissen gefunden hat, die zum Abschied vom bisherigen Leben geführt haben, hat Mut, Ausdauer und Kreativität bewiesen. Er oder sie ist nicht nur hilfsbedürftig, sondern in aller Regel auch tatkräftig bereit, sich dafür einzusetzen, dass es in der neuen Heimat zu einem guten, erfolgreichen Neustart kommt. Hierin stecken Potenziale für das Aufnahmeland. Potenziale, die allerdings von einer einseitig auf Abwehr und Vermeidung bedachten Politik nicht erkannt und genutzt werden.“

Diese Sätze stammen von Armin Laschet und sind mittlerweile neun Jahre alt. Natürlich konnte er damals die Jahre 2015 und 2016 nicht voraussehen, in denen über eine Million Menschen einen Asylantrag in Deutschland gestellt haben. Sein Buch „Die Aufsteigerrepublik“ wurde im Jahr 2009 veröffentlicht, in einer Zeit „erhebliche[r] Entspannung“ bei der Einwanderung aufgrund des drastischen Rückgangs der Asylbewerberzahlen, so Laschet in seinem Buch. Die Situation einer „erhebliche[n] Entspannung bei der Einwanderung“ hat sich in den vergangenen Jahren geändert. Andere Dinge sind wiederum gleichgeblieben: Zum Beispiel hat die Metapher vom „vollen Boot“ eine Renaissance erlebt, die sich unter anderem auch in Anschlägen auf Flüchtlingsunterkünfte und in dem Einzug der AfD in viele Landesparlamente und den Bundestag zeigt.

Auch die Arbeit der Soziokultur hat sich im Laufe der letzten drei Jahre verändert. Die Statistiken der Bundesvereinigung Soziokultureller Zentren sowie der LAG Soziokultur Nordrhein-Westfalen belegen, dass Geflüchtete und Asylsuchende im besonderen Fokus der Arbeit stehen.
Die soziokulturellen Zentren und Akteure haben die vergangenen Jahre erfolgreich dazu genutzt, ein besonderes Angebot, eine Infrastruktur, Netzwerke und vor allem Know-how in diesem Bereich auf- beziehungsweise auszubauen. Dabei hat auch die neue Förderstruktur in diesem Bereich mit Landesprogrammen wie „Flucht und Migration“ geholfen. Denn allein durch die Finanzierung der Städte wäre dies schwierig geworden.
Doch mittlerweile steht auch die inhaltliche Arbeit vor neuen Herausforderungen, denn: Die Zeit des Ankommens ist für die meisten Geflüchteten vorbei!
So wünschen sich junge Geflüchtete Normalität und wollen nicht immer nur als „Opfer“ in die Kategorie „Flucht“ eingeordnet werden. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie der Universität Siegen zur Lebenswelt junger Geflüchteter. Sie hebt hervor, dass die Jugendlichen ganz „normale“ Ansprüche stellen wie: Freundschaften zu schließen, sich sportlich oder kulturell zu betätigen, Spaß zu haben und – vor allem in ländlichen Wohnorten – von der Langeweile abgelenkt zu werden, aber auch die deutsche Sprache zu trainieren oder Hilfe für Behördenkontakte zu finden.
Die Kategorisierung als Geflüchteter birgt immer die Gefahr, Trennendes zu betonen, stigmatisiert und reduziert die Menschen auf ihre Fluchterfahrung. Dabei sind geflüchtete Menschen alles andere als eine homogene Gruppe. Es gibt große Unterschiede in Bezug auf Herkunft, Bildung, Fluchtgrund, Unterbringung (Flüchtlingsunterkunft, eigene Wohnung, Wohngruppe), Dauer des Aufenthalts, Alter, Sprachkenntnisse, Aufenthaltsstatus, Arbeitssituation (berufstätig, arbeitssuchend, in einer Maßnahme des Jobcenters und nicht hinsichtlich des Fluchtverlaufs. All diese Faktoren spielen eine Rolle: ob jemand überhaupt in der Lage ist, an kulturellen Aktivitäten teilzunehmen.
Und wenn dies möglich ist, heißt das noch lange nicht, dass man den Menschen mit seinem Angebot auch erreicht, da man sich auf Seiten der Institutionen erst allmählich auf die Wünsche, Bedürfnisse und Besonderheiten der verschiedenen Gruppen eingestellt hat. Denn Menschen aus unterschiedlichen Ländern haben selbstverständlich zum Beispiel verschiedene Musikgeschmäcker. Angebote für geflüchtete Frauen müssen anders konzipiert werden als solche für geflüchtete Männer, weil sie andere Barrieren haben, die ihrer Teilhabe an Projekten im Weg stehen. So haben wir im Kulturzentrum zakk in Düsseldorf die Erfahrung
gemacht, dass Angebote für geflüchtete Frauen zunächst exklusiv sein sollten und eine Kinderbetreuung mitbedacht werden muss, wenn man sie erreichen will.

Viele soziokulturelle Zentren konnten geflüchtete Menschen mittlerweile in ihre Arbeit einbinden, beispielsweise als Künstlerin, Projektmitarbeiterin, Servicekraft, Praktikantin, Azubi oder auch als Ehrenamtlerin. Dabei bleibt das Thema Bezahlung auf Basis von rechtlichen Einschränkungen immer noch sehr schwierig. Und zwar häufig nicht mehr, weil der Aufenthaltsstatus der Geflüchteten noch ungeklärt ist, sondern weil viele zurzeit arbeitssuchend sind und in die Hartz-IV-Regelung fallen.
Eine weitere Besonderheit der Arbeit mit Geflüchteten ist die Fluktuation. In den Jahren 2015 und 2016 war dies gerade in langfristig angelegten Kulturprojekten ein Problem, wenn Menschen von einem auf den anderen Tag nicht mehr kamen, weil sie die Unterkunft oder die Stadt wechseln mussten oder gar abgeschoben wurden.
Letzteres passiert leider immer noch in regelmäßigen Abständen. Sehr viel häufiger kommt es allerdings vor, dass die Menschen an Maßnahmen teilnehmen oder im besten Fall einen bezahlten Job gefunden haben und deshalb nicht mehr oder sehr viel seltener kommen. Im zakk haben wir im Laufe der letzten Jahre eine Gruppe aus syrischen, irakischen und deutschen Ehrenamtlerinnen aufgebaut, die aber genau aus diesem Grund mittlerweile auf ein kleines Team zusammengeschrumpft ist und die wir nun neu aufbauen müssen.

Wir sollten uns lösen von der immer noch spürbaren Wirkung der ‚Das Boot ist voll‘Metapher. “

Armin Laschet

Die Grundeinstellung des Sichkümmerns, eine naturgemäß einseitige Willkommenskultur und Programme lediglich für beziehungsweise über Geflüchtete konnten als Startpunkt akzeptiert werden. Mittlerweile muss es aber darum gehen, Teilhabe einzulösen, geflüchtete Menschen selbst planen zu lassen und Macht abzugeben. Deshalb stellen wir unser Know-how, unsere Infrastruktur und unsere Räumlichkeiten zur Verfügung. Denn soziokulturelle Arbeit bedeutet: Empowerment.
In der ZEIT NACH DEM ANKOMMEN sollten Geflüchtete die Möglichkeit haben, ihr Lebensumfeld selbst zu gestalten und mitbestimmen zu können. Sie sollten selbst entscheiden, wer welche Geschichten wann wo und mit welchen Mitteln erzählt. Doch das hört sich leichter an als getan, wirft in unserer Arbeit neue Fragen auf und stellt uns vor neue Herausforderungen.
Im zakk stehen wir beispielweise vor der Frage, wie sich Teilhabe in einem laufenden Betrieb realisieren lässt, der sich zu fast 70 Prozent selbst finanzieren muss und in dem Termine chronisch knapp sind. Die bisher ehrenamtlich tätige Gruppe aus neuen und alten Düsseldorferinnen muss betreut und angeleitet werden, denn auch bei uns gilt: kein Ehrenamt ohne Hauptamt. Dabei sind die Arbeitsbedingungen des zuständigen Kollegen alles andere als optimal: Wir können ihm weder einen vernünftig ausgestatteten Arbeitsplatz noch eine berufliche Perspektive bieten, die aufgrund der Projektfinanzierungen über ein laufendes Jahr hinausgeht. Hier sollte auf Seiten der Fördergeldgeber geprüft werden, ob die komplizierte Sprache der Projektausschreibungen, die viele Geflüchtete (und auch einige Nichtgeflüchtete) ausschließt, vereinfacht werden kann. Außerdem sollten zukünftige Projekte über die Dauer eines Jahres hinaus finanziert werden, damit Kontinuität ermöglicht wird und die bisher geleistete Arbeit nicht umsonst gemacht worden ist. Denn von der aufgebauten Infrastruktur, dem Netzwerk und vor allem den gemachten Erfahrungen profitieren am Ende nicht nur Akteure der Soziokultur.


Soziokulturelle Zentren, Akteure und Projekte sind sich ihrer wichtigen gesellschaftlichen Verantwortung bewusst, indem sie aktiv zum gesellschaftlichen Zusammenhalt und zur Entwicklung einer offenen Gesellschaft beitragen. In einer Zeit, in der rechte und rassistische Strömungen zunehmen, Populismus um sich greift und es vielen Leuten immer schwerer fällt zu differenzieren, bieten sie das vielleicht wirkungsvollste Mittel, um Vorurteile abzubauen: Kontakt.


In vielen soziokulturellen Projekten arbeiten Menschen mit und ohne Fluchtgeschichte auf Augenhöhe zusammen und bringen sich, ihre Persönlichkeit und ihre individuellen Stärken ein. So wird die fremde Realität des anderen greifbarer – Verständnis und Empathie entstehen. Inklusion sollte daher ein treibender Faktor der Beschäftigung mit den Themen Flucht und Migration sein. Und der Fokus von Förderprogrammen sollte nicht mehr ausschließlich auf der Gruppe der Geflüchteten liegen, sondern auch Menschen ohne Fluchtbiografie ins Auge fassen. Denn – wir leben alle in einem Einwanderungsland, ob wir wollen oder nicht. Carolin Emke, die Friedenspreisträgerin des deutschen Buchhandels, spricht in diesem Zusammenhang von einer notwendigen „Pluralisierung der Perspektiven“.

Es geht um die grundlegende Frage, wie wir, auch die Soziokultur, die ZEIT NACH DEM ANKOMMEN gestalten, um Diversität in unserer Gesellschaft zu stärken, gesellschaftlichen Zusammenhalt zu fördern und Inklusion zu ermöglichen.
Dies erfordert auch eine Sensibilisierung für Diversität bei den eigenen Mitarbeiterinnen in den soziokulturellen Zentren, die selbst häufig Vorurteile und Stereotype reproduzieren, da die eigenen Privilegien und die damit verbundene Macht zu wenig reflektiert werden. Und nicht nur das Personal in den Häusern hat Förderbedarf. Auch die in den Projekten eingebundenen Künstlerinnen und pädagogischen Fachkräfte sollten Teil von Qualifizierungsangeboten sein, in denen es in der ZEIT NACH DEM ANKOMMEN nicht mehr nur um die Themen Flucht und Trauma gehen sollte. Vielmehr sollte man die Künstlerinnen und Fachkräfte auf den Umgang mit diversen Teilnehmergruppen vorbereiten und diese Angebote über Förderprogramme wie „Flucht und Migration“ mitfinanzieren.

Soziokulturelle Zentren und Projekte vernetzen verschiedene Menschen und Organisationen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern weit über die Kultur hinaus. Sie haben sich inzwischen ein relevantes Netzwerk zur hiesigen Flüchtlingshilfe aufgebaut (zu kommunalen Integrationszentren, integration points, Arbeitsagenturen, Flüchtlingsunterkünften). Oftmals sind sie Mitglieder in Arbeitskreisen für Geflüchtete vor Ort. Selbstverständlich hat Soziokultur nicht auf alle Fragen eine Antwort und kann nicht alle Probleme lösen, aber ein gutes Netzwerk kann dabei helfen, die richtigen Ansprechpartnerinnen zu finden oder rechtliche Fragen zu beantworten.

Soziokultur hat verstanden, dass Mobilität und aufsuchende Kulturarbeit wichtig sind, um geflüchtete Menschen zu erreichen und Barrieren, die ihrer Teilhabe im Weg stehen, abzubauen. Viele Angebote finden daher nicht in den Häusern selbst, sondern im öffentliche Raum oder in Flüchtlingsunterkünften statt. Soziokultur kann ein starker Verbündeter dabei sein, Teilhabe für Menschen mit Fluchtgeschichte zu realisieren, da ihre Akteure und Zentren in den Städten verankert sind und ihr Prinzip schon immer auf Kooperation und Vielfalt ausgerichtet war.
Wenn man von der Soziokultur etwas lernen kann, dann ist es dies: sich selbst zu organisieren, Räume in der Stadt zu erschließen, sich zu vernetzen und aus wenig Geld das Maximale herauszuholen. Dies sind einige der Fähigkeiten, die Geflüchtete in der ZEIT NACH DEM ANKOMMEN benötigen und die die Soziokultur seit über 40 Jahren erfolgreich praktiziert.

Zusammenfassend stelle ich fest: Erstens muss es in unserer Arbeit auch künftig darum gehen, Teilhabe auf Augenhöhe zu ermöglichen. In diesem Prozess müssen wir uns selbst und unsere eigene Machtposition immer wieder kritisch hinterfragen. Zweitens dürfen Geflüchtete nicht isoliert, als Kategorie oder homogene Gruppe gesehen werden, sondern müssen als Individuen mit unterschiedlichen Vorlieben, Geschichten und Persönlichkeiten akzeptiert und eingebunden werden. Und drittens muss Kontinuität und Langfristigkeit, auch finanziell, sichergestellt werden, damit das bisher Erreichte in den Normalbetrieb integriert werden kann und nicht im Sande verläuft.

In diesem Sinn möchte ich zum Abschluss noch einmal unseren Ministerpräsidenten zitieren:
„Wir sollten nicht die Einsicht in die Realität verweigern, dass sehr viele der Menschen, die in der Vergangenheit als Flüchtling gekommen sind, faktisch viele Jahre und ein beachtlicher Teil von ihnen dauerhaft bei uns geblieben sind bzw. bleiben. Eine Realitätsverweigerung, wie sie viel zu lange bei den vermeintlichen ‚Gastarbeitern‘ praktiziert worden ist, dürfen wir uns mit Blick auf die Menschen mit einer Fluchtgeschichte nicht erlauben.“